Im Schutz der Dunkelheit zogen die Nebelschleier wie Heerscharen entlang der Weingärten, marschierten ohne abreißen zu wollen von Tal zu Tal, bedacht, keinen der verstreuten Hügelkämme auszusparen. Nahe der Grenze zu Slowenien hatte das riesige Heer im Leibnitzer Feld sein Aufmarschgebiet gefunden. Bereit zur entscheidenden Schlacht standen die Nebelschatten schweigsam und still, dicht gedrängt in Reih und Glied. Kuriere galoppierten auf Nebelpferden zu den Kommandanten der Bataillone. Heiß dampfte der Schweiß der schnaubenden Tiere, während die Krieger im Schutze des weißen Harnisch ihre Meldungen machten.
Marketenderinnen schwebten von einer Ansammlung zur nächsten, bemüht, dem Aufmarsch des Trosses nicht hinderlich zu sein. Dunkelbraune Kastanien lagen wie verloren gegangene, schlampig gehütete Munition am Boden, und deren stachelige Gehäuse dienten den Schattenkriegern als Morgensterne. Späher jener hungrigen Meute umkreisten in dünnen, kaum wahrnehmbaren Schwaden das Gasthaus »Zum Horn«. Düstere Stimmen drangen aus den gekippten Fenstern und lockten die Kundschafter näher und näher. Grell leuchtete das Licht durch das Glas. Wie Dornen bohrten sich die Strahlen in das geheimnisvolle Antlitz der nächtlichen Späher und ließen sie zurückschrecken. Verhalten lauschten sie den dumpfen Worten. »Du hast genug getrunken. Geh nach Hause und hör endlich auf, meine Gäste zu belästigen!« Unwirsch schleuderte der Hornwirt seinem Gegenüber zum wiederholten Mal die Aufforderung entgegen, zu verschwinden. Trotzig blickte jener mit seinen rötlich angelaufenen, leicht zusammen gekniffenen Augen. »Du wirst mir nicht sagen, wann ich genug habe«, fauchte Anton Nestler. »Bring mir noch zwei Bier, für mich und den Polier.« Zu diesem gewandt lallte er: »Du trinkst doch mit mir?« »Nein, für heute reicht es. Der Wirt hat recht, geh nach Hause. Mitternacht ist vorbei.« »Glaubst du, ich fürchte mich vor Gespenstern? Es gibt sie nicht mehr. Sind alle gestorben. Trinken wir auf den plötzlichen Gespenstertod.« »Ohne mich! Ich muss in sechs Stunden auf der Baustelle sein. Ausgeschlafen, nicht betrunken. Ich werde auf mein Zimmer gehen. Gute Nacht.« Anton Nestler packte den Polier am Arm und schrie: »Nirgends wirst du hingehen! Verstanden? Du wirst mit mir auf die Gespenster anstoßen. Wirt, wo bleiben unsere Bierkrüge?« Matthias Steiner blieb beherrscht sitzen und blickte auffordernd zum Hornwirt. Dieser ging zu einem Tisch, an dem zwei kräftige Männer saßen und raunte ihnen etwas zu, worauf diese aufstanden und sich langsam Richtung Anton Nestler begaben. Dieser spürte die Bedrohung.
»Rausschmeißen will der Feigling mich! Ihm fehlt der Mut, selbst Hand an mich zu legen! Kommt her, ich bin Manns genug, um es mit euch beiden aufzunehmen«, schrie er hysterisch, sprang auf, warf den Tisch, an dem er gesessen war, um, versuchte krampfhaft nicht zu wanken, beugte sich zu Matthias Steiner, der gerade noch mit seinem Sessel zur Seite rücken hatte können, und zischte: »Alles nur wegen dir, du Stadttrottel!« Matthias Steiner schwieg. »Glaubst, etwas Besseres zu sein, weil du auf der Baustelle mit den armen Hunden herumkommandieren kannst. Ich sage dir, was ich von dir halte: das …!« – Anton Nestler spuckte dem Polier mitten ins Gesicht. Der Speichel tropfte jenem von der Wange. Die zwei Männer sprangen nun herbei, packten den wild um sich schlagenden Mann bei den Armen und schliffen ihn nach draußen. Vor der Haustüre ließen sie ihn hart auf die Betonstiege fallen. »Verschwinde!«, sagte einer der Männer. »Ich gehe nicht nach Hause zu jener Schlangenbrut«, versteifte sich Nestler. »In die Gaststube kommst nicht mehr, denn dann kriegst du Prügel«, meinte der andere. »Ich war hier auch einmal Rausschmeißer«, brüstete sich Anton.
»Muss schon lange her sein«, spottete der ältere von den Männern. »Und jetzt hau ab!« Fluchend raffte sich Anton Nestler auf, torkelte, sich schwerfällig am Geländer abstützend, die breite Eingangsstiege hinab, schritt auf schwachen Beinen über den Parkplatz, auf dem noch etliche Autos standen und verschwand im Nebel, dessen dichte Schwaden sich bereits des Ortes bemächtigt hatten. »Jedes Dorf hat seinen Tölpel. Lehndorf hat den Anton. Es ist ein Elend mit ihm«, entschuldigte sich der Wirt bei Matthias Steiner, der soeben von der Toilette zurückkam, wo er sein Gesicht gewaschen hatte. »Er war nicht immer so«, fuhr er fort, »den frühen Tod seiner Mutter hat er nie verkraftet. Er war erst elf. Und beim Kernbauern ohne Mutter aufzuwachsen war bestimmt kein Honiglecken.
Der Kernbauer ist ein harter Mann, hart zu sich und anderen. Was die Wirtschaft an Ertrag nicht brachte, verdiente er sich als Fahrer für die Brauerei. Während er arbeitete, ging der Anton zur Schule, versorgte das Vieh und musste dem Vater eine Jause zubereitet haben, wenn dieser am späten Nachmittag nach Hause kam. Bevor Anton mit der Schulaufgabe beginnen durfte, hatte er dem Vater am Hof noch zu helfen. War ein armer Hund, der Anton.« »Geschlagen hat der Kernbauer seinen Buben aber nie«, warf der Pfarrer ein, den die Einsamkeit aus dem Pfarrhof in die Wirtsstube getrieben hatte und der bisher dem Geschehen teilnahmslos gefolgt war. »Ein braver Ministrant war der Anton, anständig und pünktlich. Immer verlässlich. Aber seit dem Tag, an dem die Maria gestorben ist, wollte er meine Sakristei nicht mehr betreten. Hat dem Herrgott nie verziehen, ihm seine Mutter hinweggerafft zu haben.« Der Pfarrer blickte in ein Schweigen, das sich bis in die letzte Nische des Raumes ausgebreitet hatte. »Der Kernbauer tat sein Bestes. Mit strenger Hand hat er seinen Sohn aufgezogen. Eine gute Lehrstelle als Tischler hat er ihm besorgt. Für das, wie es gekommen ist, kann er nichts.« »So sehe ich das nicht, Herr Pfarrer«, meinte der Wirt. »Wie oft hat der Alte den Kleinen alleine gelassen! Und das bei den vielen Gespenstern, mit denen er seinem Sohn Angst eingejagt hat, und zog es vor, in der Kneipe zu zechen. Über Jahre war er jeden zweiten Tag hier.«
»Er hat den plötzlichen Tod seiner Frau nicht verkraftet. Ist auch nur ein Mensch.« »Aber in erster Linie Vater«, warf Peter Penz, der ältere von den beiden Rausschmeißern, ein. »Ist ein Kind da, musst auf das verzichten, was ihm schadet. Und wenn du alleine bist, musst zu Hause bleiben.« »Solche Worte aus deinem Mund?«, staunte der Pfarrer. »Seitdem der Peter Großvater geworden ist, denkt er anders. Früher hat er mit dem Kernbauern mitgesoffen«, warf der Wirt ein. Matthias Steiner war im Begriff, die Stube zu verlassen und fragte beiläufig: »Woran ist die Frau des Kernbauern gestorben?« Als er keine Antwort erhielt, drehte er sich um und blickte in betretene Gesichter.
»Es war ein Unfall«, überwand sich als Erster der Wirt. »Ein Unfall?« »Der Traktor hat sie überrollt.« »Mein Gott, wer ist gefahren? Der Kernbauer?« »Nein – der Anton.« »Mit elf Jahren?« »Er ist am Traktor gesessen und hat gespielt, wie es Tausende andere Kinder auch tun. Er hat die Handbremse gelöst, und dann ist es passiert. Jedes Dorf hat seine Tragödie, und Lehndorf hat diese.« »Der alte Kernbauer hat sich am Sohn gerächt und ihn alleine gelassen«, sinnierte der Polier. »Nein, er hat versucht, seinen Kummer zu töten«, stellte der Pfarrer fest. »Mit dem Wissen, deine Mutter umgebracht zu haben, musst erst lernen zu leben«, meinte der Wirt. »Ein armer Hund, der Anton«, stimmte auch der Polier zu. Je näher Anton Nestler dem Hof seines Vaters kam, desto langsamer bewegte er sich. Immer wieder verzögerte er seinen torkelnden Gang, fluchte, spuckte und übergab sich. Im Haus des Kernbauern brannte noch Licht in der Stube. »Sperrstunde war um zwölf«, seufzte Johann Nestler. »Dann wird er bald kommen«, meinte Maria, trat zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. »Finsternis, wohin ich blicke.« »Du bist eine brave Frau, dass du ihn noch nicht verlassen hast. Fast zu tapfer.« Der Alte blickte zu Boden. »Weißt Vater, die Kinder sind hier zu Hause. Und du, du brauchst auch eine Hilfe.« »Mein Gott, die zwei Buben! Die hätten einen besseren Vater verdient. Auf mich brauchst du keine Rücksicht nehmen. Wenn du gehen willst, dann gehe. Schlagen lassen musst du dich nicht vom Anton.« »Wohin soll ich gehen ohne Geld? Er versäuft ja alles.« Der Alte schwieg und sah zum Fenster.
»Wir werden unser Gästezimmer vermieten«, sprach er nach einer Weile, »Das Geld bekommst du. Wenn du genug beisammen hast, kannst gehen. Alles mit meinem Segen.« Anton Nestler hatte sich vor das große Scheunentor gesetzt und blickte über die schräge Zufahrt zum Bauernhaus. »Schau Mutter, die warten auf mich. Jeden Tag warten sie auf mich, deinen Mörder, von Geburt an bestimmt, dein Untergang zu sein. Du schenktest mir mein Leben, deine Liebe und ich dir den Tod.« Er begann zu schluchzen und starrte in die Finsternis. Die dunklen Gesellen der Nebelschwaden zogen unberührt an ihm vorbei, umklammerten das Haus, ließen plötzlich davon ab und schritten weiter über Äcker, die rund um das Gehöft angelegt waren, zwängten sich zwischen den Bäumen des kleinen angrenzenden Wäldchens hindurch, erklommen den nahen Hügel und sammelten sich um die Kapelle, die vor zwanzig Jahren aus Anlass des Todes der Bäuerin errichtet worden war und vor der jeden Tag im Sommer, Frühjahr und Herbst bunte Blumen und im Winter frische Zweige in einer bescheidenen braunen Tonvase standen.
Die stummen Krieger des nächtlichen Schattens verharrten vor dem Mahnmal, gedachten des großen Schöpfers und wurden der Vergänglichkeit auch ihres Seins gewahr. Nach jener Ehrenwacht zogen sie weiter, lautlos entlang des abfallenden Hügelkammes. »Wach auf, Anton. Komm ins Haus. Du erfrierst mir noch!« Der Kernbauer rüttelte seinen Sohn an den Schultern. Langsam öffnete jener die schweren Lider und sah den dunklen Schatten des Vaters vor sich stehen. »Vater, lass mich in Ruhe! Ich will schlafen und … nicht mehr aufwachen.«
Der Alte kniete nieder und umarmte seinen Sohn. »Anton, sei nicht so hässlich zu Maria und den Buben. Sie lieben dich – und du …« Aufgebracht stieß Anton den Alten von sich und rief: »Sie hat dich gegen mich aufgehetzt! Und du hältst zu ihr. Du bist nie hinter mir gestanden. Du hasst mich wegen des Unfalls. Du sprichst nicht mit mir darüber. Du schweigst wie diese Nebelschwaden, die gespenstisch ihre Kreise ziehen. Alle schweigen und zeigen mit den Fingern auf mich. Sie flüstern hinter vorgehaltener Hand und nennen mich den Muttermörder, diese feigen …« »Anton, beruhige dich. Das Selbstmitleid hilft nichts. Komm ins Haus.« Der Kernbauer blickte auf seinen Sohn, der wie ohnmächtig am Tor lehnte. Mühevoll schleppte er Anton in den nahe gelegenen Kuhstall, wo er ihn ins Heu legte und mit einer alten, löchrigen Kotze zudeckte.
Der Morgen erwachte und ließ das gewaltige Heer der Nebelkrieger offenkundig werden. Die Hügel ragten eingesponnen als Aussichtstürme aus dem unheimlichen Tross hervor, der das gesamte Leibnitzer Feld erfüllte. Die zarten Sonnenstrahlen prallten auf die ersten Reihen der Krieger und entfachten die Schlacht. Erst nach Stunden erbitterten Kampfes konnten sie die Reihen des Feindes lichten. Schweigsam, wie sie gekommen waren, entschwanden die Krieger der Nacht. Gegen zehn Uhr verließ Johann Nestler zufrieden das Gemeindeamt, in dem er seinen Willen, eines der vielen Zimmer des Hauses vermieten zu wollen, auf der Anschlagtafel kundgetan hatte. Es vergingen keine zwei Stunden, und der erste Interessent stellte sich ein. Ein stattlicher Mann Mitte vierzig, der auf der nahe gelegenen Großbaustelle zur Errichtung eines riesigen Baumarktes beschäftigt und dem das tägliche Pendeln zu anstrengend war. Auf den Kernbauern machte er einen vernünftigen Eindruck, zumal er sich mit der monatlichen Miete von 100 Euro sofort einverstanden erklärte. Ob der Arbeiter von Maria auch bekocht werden würde, konnte und wollte der Kernbauer nicht ohne Zustimmung seiner Schwiegertochter entscheiden. Geschäftstüchtig wie er war fixierte er den Preis des Abendessens vorsichtshalber mit zwei Euro. Die beiden besiegelten ihren Pakt mit einem Handschlag und vereinbarten, sich um 20 Uhr mit Maria in der Stube zu treffen. Als der Mieter sich verabschiedet hatte, ging der Kernbauer in den Stall, um seinen Sohn zu wecken. Zu seiner Überraschung fand er zwar die Decke im Heu liegen, aber von seinem Sohn fehlte jede Spur.
»Ich möchte wirklich wissen, wo der Bursche sich herumtreibt«, sprach er zu sich selbst. »Wahrscheinlich sitzt er irgendwo im Gasthaus und säuft sich einen Rausch an. Nur der Herrgott weiß, wo das enden wird.« Als Maria von der Arbeit – sie reinigte viermal die Woche am Vormittag die Ordination des Arztes in Lehndorf – nach Hause kam, wartete Anton in der Stube mit einer Schnapsflasche in der Hand. »Die Verschwörerin kommt. Oder sollte ich sagen, die Verräterin lässt sich blicken? Der Vater und du, ihr habt euch gegen mich zusammengetan. Das hätte ich mir denken können. Ich bin dir nicht mehr gut genug, was?« »Ich versteh nicht, was meinst du?« »Tu nicht so falsch, das Gästezimmer hat er vermietet. Er sucht für seine Enkel einen neuen Vater.« »Woher weißt du das?«, fragte sie betroffen. »Du versuchst nicht mal zu leugnen? So wenig bin ich dir wert? Nicht einmal eine Lüge?« »Aber Anton, gestern erst sagte der Vater, er wolle vermieten und heute soll es bereits geklappt haben?« »So ist es mit Verschwörungen. Sie sind von langer Hand vorbereitet. Und weißt du, wem er das Zimmer vermietet?« »Wie soll ich das wissen, ich war putzen.« »Einem feschen Mann mit einem teuren Auto. Ich habe ihn vom Stall aus gesehen. Der wird dir gefallen. Der ist nicht heruntergekommen wie ich, und Arbeit hat er auch.« »Du tust, als ob du ihn kennen würdest.« »Natürlich kenne ich ihn. Jeder kennt jeden hier in diesem Kaff. Beim Hornwirt hat er gewartet, der Nebenbuhler, im Startloch ist er gehockt. Polier ist er. Ein Besserer auf der Baustelle. So einer, der den Leuten Arbeit anschaffen kann. Der wird dir gefallen. Das weiß ich. Vielleicht wirst für ihn auch die Wäsche waschen. Seine Unterwäsche. Vielleicht übernimmt er bald meinen Platz hier auf dem Hof und – im Schlafzimmer.«
»Anton hör auf! Noch bist du mein Mann und …« »Noch, sagst du. Hast wahrscheinlich innerlich schon Abschied genommen von deinem Versager. Gut habt ihr es euch ausgedacht, der Vater, du und der Polier.« Aufgebracht lief er aus der Stube. Maria schaute ihm traurig nach und begann, in Gedanken versunken, das Essen für den Vater und die Kinder, die wochentags gegen Mittag zu unterschiedlichen Zeiten von der Volksschule nach Hause kamen, zu kochen. Diesmal trafen alle gemeinsam ein. »Großvater hat uns von der Schule abgeholt«, rief Paul, der Ältere der beiden. »Und eine Überraschung hat er für uns«, rief Franz. »Die Überraschung hat mir euer Vater bereits mitgeteilt.« Zum Kernbauern gewandt: »Johann, du hättest mit dem Anton reden sollen. Der bildet sich ein, alles zu wissen und ist tief betroffen. Er hat mir aufrichtig leid getan. Leichter macht das unser Zusammenleben nicht.« »Ich wollte es ihm sagen, aber er war verschwunden. Außerdem ist es meine Angelegenheit, ob ich vermiete oder nicht.«
Der Nachmittag schien ein Nachmittag wie jeder andere zu sein. Der Kernbauer arbeitete am Hof, und Maria machte mit den Buben die Schulaufgaben. Danach ging sie zum Melken der Kühe in den Stall. Doch immer wieder schaute sie nervös auf ihre Uhr, blickte verträumt ins Leere, schüttelte den Kopf und holte sich mühevoll in die Wirklichkeit zurück. Pünktlich um 20 Uhr fuhr der neue Mieter mit seinem dunkelgrünen Mercedes im Hof ein. Das Abendessen war gerichtet, Bier und Most standen auf dem Tisch. Die Kinder klebten an den Fensterscheiben und liefen aufgeregt zur Haustür, als es kurz klopfte. Maria öffnete und schreckte zurück. Vor ihr stand ein Mann, mindestens 1,90 Meter groß, mit breiten Schultern, schwarzem gelocktem Haar und schelmisch blinzelnden, blauen Augen. Ein braun karierter Schal war locker um den Hals geschlungen. Seine schwarze Lederjacke trug er offen. Das blaue -Jeanshemd war bis zur Brust aufgeknöpft und offenbarte den Anblick einer schweren Goldkette, die den kräftigen Hals zierte.
»Willkommen am Hof des Kernbauern«, sagte sie höflich. Dem Mann verschlug es fast die Sprache. »Wieso Kernbauer, ich dachte, der Bauer heißt Johann Nestler?« »Kernbauer ist unser Vulgoname.« »Um Gottes Willen. Dann ist der Besoffene vom Hornwirt Ihr Mann?« »Ich weiß es nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit, meinen Mann betrunken in einer der Gaststätten anzutreffen, ist leider hoch.« »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit ihm. Er suchte Streit. Irgend etwas an mir hat ihm nicht gefallen.« »Sie müssen das Zimmer nicht nehmen«, meinte sie miss-mutig. Der Polier musterte Maria und lächelte. »Warum nicht? Es ist nur für ein paar Monate. Wird schon gut gehen.« »Das meine ich auch«, rief der Kernbauer beim Betreten der Stube. »Und Handschlag ist Handschlag. Daran wird nicht gerüttelt.« »Sie würden auch einen guten Polier abgeben«, meinte der Mieter lächelnd. »Übrigens, mein Name ist Matthias Steiner.«
»Ich heiße Maria Nestler.« Der Polier reichte ihr seine Hand und blickte ihr tief in die Augen. Leicht errötend wandte sie ihren Kopf zur Seite. »Ihr habt einen schönen Hof«, sagte Matthias Steiner, der es nicht schaffte, seine Blicke von Maria zu lösen. Ihre schlanke, wohlgeformte Figur, die sich dezent hinter einem langen Kleid verbarg, erregte seine Phantasie. »Viel Arbeit«, meinte der Kernbauer, »aber bei uns können Sie auch spazieren gehen. Oben, am Hügel, bei der Kapelle haben Sie auch eine schöne Aussicht. Dort befindet sich zwar keine Bank zum Sitzen, dafür stehen immer hübsche Blumen und Zweige geschmackvoll arrangiert in einer Vase davor. Keiner weiß, wer sie dort hinstellt. Wird eine der alten Frauen sein, die versucht, den Herrgott gütig zu stimmen. »Vernünftig, man weiß nie, was kommt«, stimmte Matthias Steiner zu. »Man weiß nie, was kommt«, wiederholte Maria, die seit dem Auftauchen des Poliers wie hypnotisiert wirkte und verstohlen den Blickkontakt zu ihm suchte. Matthias Steiner blieb eine Stunde. Alle genossen die heitere Unterhaltung. Auch den Kindern gefiel der Polier. Seine lustige Art und vor allem der Umstand, dass sie ihre Mutter seit langem wieder herzlich lachen sahen, erfüllten sie mit Freude. Als er sich verabschiedete, warnte der Kernbauer:
»Vorsicht ist geboten bei diesem Nebel. Er ist heimtückisch und gefährlich. Konzentrieren Sie sich auf die Reflektoren der Straßenbegrenzungen, dann werden Sie heil zum Hornwirt zurückfinden. Wann haben Sie vor, bei uns einzuziehen?« »Morgen, wenn ich darf.« »Das Zimmer steht Ihnen zur Verfügung.« Nachdem der Gast verabschiedet und die Kinder zu Bett gebracht worden waren, fragte Johann Nestler seine Schwiegertochter: »Was hältst du von ihm?«
»Wirkt sympathisch.« »Finde ich auch«, meinte der Alte lächelnd. Im Schutze des Nebels hatte Anton Nestler das Geschehen durch das Fenster beobachtet. Die freundlichen Blicke seiner Frau und das unverhohlene Begehren des neuen Mieters waren ihm nicht verborgen geblieben. Mit dem Tag, an dem Matthias Steiner in das Bauernhaus einzog, verließ Anton das eheliche Schlafzimmer und wohnte seither im Kuhstall. Er schlief im Heu und schien sich mit der Situation abgefunden zu haben, seine Frau an jenen Mann, in dessen Konkurrenz er nie zu treten wagen würde, verloren zu haben. Maria ging es von Tag zu Tag besser. Seitdem ihr Mann ausgezogen war, wurden weder die Kinder noch sie von ihm geschlagen. Der neue Mieter hatte ohne sein Zutun einen unsichtbaren Schutzwall um sie entstehen lassen. Aus Angst, von der Dorfgemeinschaft noch mehr verhöhnt zu werden, getraute sich Anton Nestler in keine der Gaststätten der näheren Umgebung. Er war sich seines erbärmlichen Zustands und der Tatsache bewusst, dass alle vom Verhältnis seiner Frau zum neuen Mieter ahnten. Das löste in ihm Scham und Trauer aus. Er fühlte sich schlechter als ein Knecht und kam nicht einmal tagsüber ins Bauernhaus. Maria brachte ihm das Essen in den Stall. »Bringst dem räudigen Hund seinen Fressnapf?«, seufzte er in einer Weise, dass ihr schwer ums Herz wurde.
»Du suchst die Distanz, nicht wir.« »Ihr seid etwas Besseres, du und der Polier. Da kann ich nicht mithalten.« Maria errötete. »Ich habe nichts mit ihm. Aber ich fühle mich zu ihm hingezogen. Er ist ein netter Kerl. Welches Bild meiner selbst hast du mir in den letzten Jahren vermittelt? Du hast mich behandelt wie den letzten Dreck. Geschlagen hast du mich. Ich war nicht mehr als ein Schuhfetzen. Das hält keine Beziehung aus.« Anton hatte seinen Blick gesenkt. »Es tut mir leid. Ich bin ein Nichtsnutz.«
»Anton, hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Du solltest dich ändern, sonst bleibt dir keine Frau.« »Du redest, als ob zwischen uns alles vorbei wäre.« »Anton, uns verbinden nur die Kinder, und um die kümmerst du dich auch nicht. Was soll ich da noch sagen?« »Nichts, ich bin ein Versager.« »So lange du dich als solcher fühlst, bist auch einer«, sagte sie scharf und ging. Matthias Steiner saß wie jeden Tag beim Hornwirt zum Mittagessen. Der Wirt, der ihm nicht böse war, das Quartier gewechselt zu haben, setzte sich an den Tisch und fragte: »Wie geht es beim Kernbauern?« »Wie soll es gehen? Ist ein ehrlicher Mann, der Kernbauer.« »Wie geht es der vernachlässigten Schwiegertochter? Dass der Anton, das abgemagerte Klappergestell, im Bett nichts weiterbringt, sieht jedes Schulkind. Hast du sie schon beglücken dürfen?« Der Polier lächelte verschmitzt.
»Die Ernte ist so gut wie eingefahren.« »Und der Anton, was sagt er?« »Der Versager ist in den Stall gezogen.« »In den Stall«, lachte der Wirt, »da gehört er auch hin, das Stinktier. Ich glaube, der hat sich in den letzten Jahren keine zweimal gewaschen. Sag’s mir, wenn du bei ihr im Bett gelandet bist. Denn dann stoßen wir darauf an.« »Den Sekt kannst schon einkühlen.« Als der Kernbauer am nächsten Tag den Stall ausmisten wollte, war die Arbeit bereits getan. Erstaunt blickte er zum Wasserhahn. Dort lagen auf einem verkehrt hingestellten Kübel neben der Seife eine Zahnbürste, Zahnpasta, Rasiermesser und eine Dose Rasierschaum. Ein Nagel war in die Wand geschlagen. An ihm hing ein Handtuch. In den nächsten Wochen war der Stall immer tadellos gesäubert, die Kühe gefüttert und am späten Nachmittag auch gemolken. Da Anton es tunlichst vermied, dem Haus nahe zu kommen, und in den Abendstunden im Stall nicht anzutreffen war, bat Maria den Kernbauern, ihm ihren Dank auszurichten. Johann Nestler beschloss, an jenem Platz, an dem er Anton am ehesten vermutete, zu warten. Spätabends setzte er sich in zwei Decken gehüllt vor die Scheune und blickte konzentriert in den Nebel:
»Ihr schweigsamen Krieger, bitte bringt mir meinen Sohn zurück«, flüsterte er. »Alles würde ich für das Glück meines Jungen opfern. Alles.« Stille umgab jene Worte. Die Dunkelheit verstand die Botschaft und trug sie weiter, tiefer und tiefer ins nächtliche Sein. Wie aus dem Nichts löste sich aus dem weißen Schleier ein Schatten, verharrte und setzte sich zum Alten. »Anton, bist du es? Bei diesem Nebel würde ich nicht einmal mein Spiegelbild erkennen.«
»Ja, Vater, ich bin es.« Klar drang eine jugendliche Stimme an sein Ohr. Irgendetwas an ihr ließ den Alten aufhorchen. »Sag, Anton, was macht der Alkohol?« »Ich trinke Wasser, Vater. Seit drei Wochen nur Wasser. Ich hab mich in kein Gasthaus mehr getraut, nachdem der Polier Marias Interesse geweckt hat.« »Wie geht es dir mit der Abstinenz?« »Ich lenke mich mit Arbeit ab. Das macht den Zustand erträglicher.« »Trotzdem, vielen Dank für deine Mithilfe. Das meint auch Maria.« »Vater, auch ich muss meine Stube sauber halten. Wie geht es ihr?« Der Alte schwieg. Dann sprach er ernst. »Ich würde mir keine Hoffnung machen. Ich glaube, sie hat sich in den Polier verliebt. Du darfst nicht böse auf sie sein. Sie ist kein leichtes Mädchen.« »Ich weiß, Vater, sie ist eine Perle.« »Zu spät kommst drauf, mein Sohn, zu spät. Er umwirbt sie, dass ein Casanova von ihm lernen könnte.« »Liebt er sie?« »Ich glaube, es geht ihm nicht um Liebe, sondern um das andere.« »Also haben sie noch nicht …?« »Nein, ich denke nicht. Aber bei solchen Geschützen fällt jede Festung.« Anton blickte betrübt vor sich hin. »Hier, am Ort des Todes meiner Mutter, schwöre ich bei Gott, nie mehr dem Alkohol zu verfallen. Ihr Nebelkrieger seid meine stummen Zeugen.« Beide Männer schwiegen. Die Nebelschwaden kamen näher und umfingen die beiden Gestalten und entrissen sie der Finsternis.
»Vater, hast du nach dem Tod von Mutter jemals etwas mit einer anderen Frau gehabt?« Liebevoll legte der Kernbauer seinen Arm um die Schulter des Sohnes. »Nein Anton, ich bin ihr treu geblieben, bis ins hohe Alter.« »Vater, mit siebzig Jahren fängt bei manchem das Leben erst an.« »Mein Leben beginnt, wenn ich mit meiner Maria wieder vereint sein werde. Anton, ich liebe dich. Es war ein furchtbarer Unfall, der dir und mir das Herz gebrochen hat. Ich war dir kein guter Vater, aber besser hätte ich es nicht zusammengebracht. Ich habe dich nie gehasst. Du bist mein größtes Glück auf Erden. »Die Augen des Vaters blickten feucht zum Sohn, der seine Wange an die Handfläche des Alten gedrückt hatte. Warm rannen die Tränen über die von der Arbeit rissigen Hände, in deren Furchen unzählige Geheimnisse des Lebens verborgen lagen. Nach einer Weile der Stille flüsterte Anton: »Ich habe damals meine Maria nicht wegen ihres Namens ausgesucht, sondern weil ich sie liebte. Die Namensgleichheit war ein Geschenk der Nebelkrieger. Weißt Vater, die Nebelkrieger sind meine Freunde. Seit dem Tag, an dem Mutter mir die Geschichte über das Nebelheer erzählt hat, das täglich zur großen Schlacht rüstet, habe ich mit ihnen gesprochen. Für mich sind sie Wirklichkeit geworden.« »Für mich auch, Anton«, flüsterte bewegt der Alte. Während Vater und Sohn dem Treiben der Schwadronen folgten, klopfte es an der Tür zu Marias Schlafzimmer. »Matthias, was willst du?«, fragte sie, vorsichtig um sich blickend. »Kann ich reinkommen?« »Warum?« »Ich möchte mit dir reden.« »Kann das nicht bis morgen warten?« »Nein, es dauert nur kurz.« »Aber wirklich, nur ein paar Minuten.« Sie öffnete widerwillig, und er huschte ins Zimmer. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, schlang er seine Arme um sie und versuchte sie zu küssen. »Hör auf!«, fauchte sie. »Das sagen alle und können dann nicht genug bekommen.«
»So nicht, Matthias!« »Wie dann? Täglich vertröstest du mich. Ich liebe dich!« »Liebst du mich wirklich? Oder willst du bloß das, was alle Männer wollen?« »Natürlich liebe ich dich. Meine Geschenke nimmst du, aber du gibst dich mir nicht hin. Ich spüre, dass du gerne von einem Mann gehalten und geliebt werden möchtest.« »Ja, ich sehne mich nach Zärtlichkeit, aber mit einem Mann, den ich liebe.« »So wie du Anton, diesen Trunkenbold geliebt hast?« »Ja, so wie ich Anton geliebt habe und noch liebe.« »Diesen Alkoholiker, der dich geschlagen hat, liebst du und mich verstößt du? Ich nehme, was mir zusteht!« Ungestüm versuchte der Polier, Maria das Nachthemd vom Körper zu reißen. »Hör auf, bist du wahnsinnig?« »Ich werde dir zeigen, wer wahnsinnig ist.« Der Polier stürzte sich auf sie. Es kam zu einem erbitterten Kampf. Verbissen wehrte sich die junge Frau, die – durch die raue Arbeit am Hof abgehärtet – dem Mann unerwarteten Widerstand entgegenzusetzen hatte. Sie nütze seine Überraschung und wand sich aus der Umklammerung.
Heulend lief sie zum Zimmer des Schwiegervaters, fand es jedoch leer. Von Panik erfasst, hetzte sie, nur mit dem Nachthemd bekleidet, ins Freie, rannte in den Wald, stieß an die Äste der Bäume, verletze sich und blutete, blieb jedoch nicht stehen. Erst als sie das Ende der Finsternis wahrnahm und auf die Wiese sehen konnte, auf der die Kapelle stand, getraute sie zu verharren, zurückzublicken und zu horchen. Dem Polier war sie entkommen. Der Nebel lichtete sich, als sie aus dem Wald trat. Nur einige weiße Schleier schwebten an ihrer Seite. Sie schaute zum Sternenhimmel und atmete erleichtert durch. Vorsichtig schritt sie zur Kapelle. Wenige Meter davor zuckte sie zusammen. Vor der Kapelle kniete schemenhaft eine Gestalt.
»Wer ist da?«, fragte eine helle Männerstimme vorsichtig in die Finsternis. Sie erkannte Anton. »Ich bin es, Maria.« Weinend lief sie zu ihm und fiel in seine Arme. Sie kratze sich an irgendetwas. Als sie danach griff, fühlte sie frische Fichtenzweige in seinen Händen. Erstaunt wich sie einen Schritt zurück. »Anton, du bist der Unbekannte, der die Kapelle jahraus, jahrein geschmückt hat?« »Jedes Dorf trägt ein Geheimnis. Lehndorf hat meines.« »Welch sonderbares Wesen verbirgt sich hinter dem Mann, der mir von Tag zu Tag fremder geworden ist?« »Eines, das in tiefste Abgründe fiel und seine größte Liebe zugrunde gerichtet hat«, sprach er betrübt und gab ihr seine Jacke. Maria erzählte von dem Vorkommnis und wehrte sich nicht, als er beruhigend seinen Arm um sie legte. Anton getraute sich nicht, sie anzusehen, als er langsam zu sprechen begann.
»Kummer und Alkohol hatten begonnen, meine Seele zu zerfressen. Für das, was ich dir und den Kindern angetan habe, gibt es keine Entschuldigung. Es tut mir furchtbar leid. Ich hoffe, du findest einen besseren Mann.« Maria schwieg. In Gedanken versunken blickte sie auf die Fichtenzweige in der Vase. Wie von fern sagte sie: »Noch ein Sturm, und unser wankendes Schiff wird kentern.« Fassungslos blickte Anton ihr in die Augen und hauchte: »Es kommt kein Sturm, vertrau mir.« Sie standen eng umschlungen und beobachteten die Krieger des Nebels, wie sie sich langsam zur täglichen Andacht vor der Kapelle einfanden. »Wir wollen zu Vater gehen und es ihm berichten«, sagte Anton. »Zu Vater?« »Ja, ich konnte mich mit ihm nach dreißig Jahren aussprechen. Es ist ein Wunder.« Als sie zum Haus kamen, war das Auto des Poliers verschwunden. »Der Dreckskerl ist fort«, sagte sie und eilte zum Zimmer des Kernbauern. »Der Vater ist nicht da«, rief sie besorgt. »Ich weiß, wo wir ihn finden können«, sagte Anton und lief zur Scheune. Dort fanden sie den Alten in eine Decke gehüllt vor dem Tor sitzen. Dichter Nebel hielt ihn umfangen. »Vater«, rief Anton, sank nieder und erstarrte. »Er ist von uns gegangen. Die Nebelkrieger haben ihn geholt.« Als das Entsetzen sich gelegt hatte, flüsterte er: »Sie bringen ihn zu Mutter.« Langsam kam Bewegung in die Reihen der Krieger, die ehrfürchtig um den Alten gestanden waren. In der Hoffnung, er werde einmal einer von ihnen, nahmen sie ihn behutsam an der Hand und geleiteten ihn die ersten Schritte seines langen Weges.
Aus dem Buch von Martin Czerwinka »Zirbengeist und Steirerstiefel«, erschienen im Weishaupt Verlag.