Das Zimmer erinnerte an ein Ei mit angeschlagenem Rand. Durch die Spältchen, Rißchen, Löchlein blickte der Himmel. Hellblau, mit weißen Flecken. Dünn ausgeschüttetes Eiweis. Der Tisch stand auf einem Bein, eines Leoparden, einer Schildkröte? Rund umher aber blaß rosige Kissen mit Vogelmotiven. Die Sonne schien heiß. Als sie mich groß und rosig durch die Gaze der Decke anblickte, verdichtete sich alles umher in ein Schwarz. Es schien mir, daß ich falle, in die Tiefen, in die Bodenlosigkeit, dann in meinen Kopf, dann ins Eingeweide.
Als ich schon dachte, daß ich nirgendswohin mehr fallen kann, öffnete sich ein neuer Grund, der Boden zog sich weg, ein neuer Kreis des Abgrunds, mit glühender Asche und mit furchtbar klebrigen Wänden, der Mund trocken, violett. Dann ein Flimmern, ein Funkenflug, zuerst ein Pünktchen, das sich langsam, kaum erkennbar, vergrößert, dann ein Kreislein, ein Kreis, ein Zerreißen der regelmäßigen Konturen und wieder ein Ei mit seinem gelben Dotter.
Noch nie in diesem Zimmer, hinter diesen weißen Wänden, unter der zerrissenen Decke mit dem Blick auf den Himmel. Und auch vorher erinnerte ich mich an nichts. Ein unbeschriebenes Blatt, kleine Risse, schon ein trüber Kanal. Als ob ich gehen und träumen würde, indem das Meer immer größere Wellen antreibt. Immer näher ein entferntes Wasser, ein furchtbar blauer Himmel. Ich senkte meine Augenwimpern und begann zu schwimmen.
Es klopfte. Einmal, zweimal. Dann entschiedene Schritte im Flur und wieder ein Klopfen, ein dünnes Hüsteln, ein Ruf: »Karliina, Karliiina!« Doch ich war im Ei, umgeben von weiß bemalten Wänden, eingetaucht ins weiche Gewebe des Eiweißes. Ich wartete. Ergeben, ruhig. Es wird mich nichts dazu bringen, daß ich aufstehe, die Schuppen ausziehe und vom Gesicht die warme Maske (ein wenig schleimige) abnehme. Durch die Finger gleitet das Licht, es prallt von ihnen ab, ich steige ins Licht, lege es mit großen Rudern bloß, weich, flüssig steige ich in die Tiefen um.
Nein, ich werde nicht an den Wänden herumirren, es gibt doch keine Tür, keine! Es gibt keine Fenster, keine!, mit dem Eiweißfleisch werde ich mich zudecken wie mit einer Decke und werde einschlafen. Zu mir fliegt ein Schmetterling mit einem zugespitzten Gesicht und mit gelben Flügeln, von denen ungeheure Schatten quirlen.
Wieder ein Klopfen, jetzt schon ungedulgig, drohend: »Karlina!« Ein Knirschen im Türschloß, das zischende I zerreißt den Raum, in großen Bauschen löst sich von mir das Eiweiß ab. Ich bin im gelben Kleid, das aschenfarbige Haar reicht mir über die Augen, lange sehe ich nichts. Doch ich höre: die Tür öffnet sich, durch die Gaze der Decke flimmern die Sterne (milchige, glückliche!). »Komm, gehen wir!«
Er ist in ein kariertes Sakko und eine schlotterige Hose gekleidet, in einer Hand hält er den Spazierstock, in der anderen eine Rose. »Da hast du!« Ich trage sie zum Gesicht, die Nasenlöcher öffnen sich lüstern. Doch die Blume ist aus Papier, eine ausgezeichnete Fälschung, ein kariertes Blatt, vom Spiegel, verhängt mit einem weißen Umhang, gleitet ein Schmetterling. Ich laufe dem Ankömmling nach, er ist weit vor mir, ich kann ihm nur wegen des gleichmäßigen Schlages des Spazierstockes folgen. Mein Körper wird beharrlich in kleine Stücke zerschnitten, die sich zusammenkleben, zu irgendeinem Knäuel auseinanderwachsen (ich? mein?). Ich rolle, wälze mich, hüpfe, reibe mich an deiner rutschigen Stiege (Feuchtigkeit, Moos), mit der Hand auf dem kühlen Geländer und schlafe wieder ein.
Noch einen Augenblick vorher duftete es nach gemähtem Gras, gegen den Himmel quirlten Wolken von Glühwürmchen (Glühbirnen, weiße Begräbnislichter), nasse Schlingpflanzen klammerten sich an meine Knöchel. Lief ich, ging ich, kroch ich? (Die Nacht ist aus Glühwürmchen, an ihnen diesseitig werde ich lesen.) In die Handfläche schob er mir ein Blatt mit einem seidenen Pfeil: »Jetzt gehe!« zuvor hielt er mich an der Hand und küßte meine Stirne mit schrecklich nassen und großen Lippen (mit einem Wachsstempel, der Mund aber is ein Rachen). Waren nicht immerfort irgendwelche Hände an meinem Hals, und klammerten sie sich nicht daran mit einem dünnen Strang? Oder war das schon Beklommenheit, die durch die Finger trat (Ja, gerade aus dieser wunderbaren Grasebene!) und mit Tausenden von Grashalmen auf meinem Körper zu kribbeln begann, sich in meinem Hals verankerte? Die Glühbirnen glühen, von ihnen rieselt das brennende Licht herunter, ich kann aber nichts lesen, weil auf dem Blatt nur Pfeile sind. (Hier weiter und noch hier, nur mir nach, noch ein wenig und noch auf die andere Seite. No, no.)
Dann war ein Wald. Von den Blättern glitten Tropfen, ich schwamm durch die Spinnennetze wie durch einen dichten Himbeerschlaf. Der Boden fing an einzusinken, der klebende Schlamm klammerte sich an die Füße, kaum konnte ich sie bewegen. Dann glitt ich auf den Boden, und darunter war noch ein Boden, ein tieferer, kühlerer (immerfort ein dünnes Rieseln des Regens, der Funken, der Tränen). Dann ein Saal, verwachsen mit Efeu, ganz allein.
Auf den Tischen an den Wänden gab es in kleinen Sträußchen ausgestellte Blumen, vorne erhob sich eine Bühne, verhangen mit dicken Vorhängen. Der Raum war reglos, lautlos. Ich setzte mich auf den Boden, shob den Kopf auf die Knie und schloß die Augen. Durch die Erinnerung glitten die Bilder unzusammenhängend, ausgerissen aus den Träumen, in denen du viel läufst, aufgescheucht zurückblickst, stehenbleibst und wieder weiterspringst in eine neue unbekannte Richtung. Dann unterbrach die Stille ein dünner Schall, ein Fliegen-, Gelsen-, Hummellaut, ein ins Bodenlose geworfener Laut. Ein Klappern des Glases, ein Trommeln unter den Füßen, ein tierisches Heulen der Sirenen. Auf die Bühne springen Männer, ins Schwarze eingehüllt, hinter ihnen Männer, eingehüllt ins Rote. Sie stellten sich jeder auf seinen Platz und blieben einen Augenblick stehen. Keine Muskel zuckte, die Augen in etwas versunken. Dann Musik, eine wilde, asiatische, über den Saal rast ein Rudel verwilderter Pferde. Und eine tiefe, allumfassende Stille.
Durch die ruhende Luft (Saiten, glatte, gespannte) wallt ein Laut auf, der Raum glänzt von den Schwüngen der Messer, die Männer drehen sich im Kreis, Tausende von Lichten schimmern silbern auf, sie stürzen aufeinander, Schreie, Schnaufen, Schläge, Zerreißen der Kleider, von Zeit zu Zeit hebt sich die Messerschneide in die Luft, im ruckhaften Schwung läßt sie sich ins warme, zitternde Fleisch herunter, in langen Schlucken trinkt sie das Blut (das heiße, brennende), das sich hinter den hölzernen Griff schüttet, hinter den Hemdsärmel und weiter, tief in den Körper, breit auf den Boden.
Ich schließe die Augen, ein wenig hebe ich die Hand, der Körper wird leicht, mit unsichtbaren Schritten rücke ich die Luft auseinander, ich reise aufwärts, gegen den Himmel, hoch, höher und schlafe im Flug ein. Und ich träume lange, unruhig, vom Heim, das irgenwo weit ist, aber gewiß am Ende dieses Fluges, vom weiß-gelben Zimmer mit der Decke statt des Himmels.
Das Erste, was ich erblickt habe, war eine Fliege. Eine große, schwarze, die gegen die Wände stieß, immer schneller, mit immer stärkeren Stößen, und dann auf den Boden fiel. Die schnellen Urzeiger glänzten. Halb drei. Von irgendwoher( aus den Öffnungen in der Decke) kam ein starkes Licht mit einem schmalen Strahlenbüschel unter der Decke, und einem breiten auf dem Boden. Ich saß im Lichtkegel, noch immer im gelben Kleid, nur die Hände waren keine Flügel mehr. Sie lehnten am Körper, kraftlos, gebeugt, wie irgendwelche fremde, unbekannte Wesen, die von irgendwoher (wer weiß woher) in meine Welt kamen, daß ich sie wieder als meine annehme, ihnen zu leben erlaube.
Das Licht war milchweiß, als ob mit ihm vom Himmel der Schnee flöße (oder war es so wegen des eiweißartigen Staubes, der rigsumherr wirbelte). Durch das Zimmer flog ein Fasan, wirklich?) Im Traum? Die Zeit war schneeartig funkelnd, der Raum gebadet im Weiß-Gelben, mit Wüstensand, den der Wind aus irgendwelchen fernen Landschaften brachte. Ich rückte zu einem Knäuel zusammen, horchte auf das gleichmäßige Ticken der Uhr und auf das Klingen des Tones a, vergiß, vergiß.
Leichte Schläge. Als ob jemand mit einem Stab schlagen würde (und ein Klang, ein Klang!). Zuerst so weit, daß ich mich darum nicht kümmere, ich träume weiter, horche dem Moos zu, das weich den Körper verwächts, dem Licht, das zittert und fein klingt (noch immer a, a, a). Dann ein so starker Schlag, daß sich das Trommmelfell spannt und daß auf mich Stücke mit scharfen Rändern regnen, die stechend die Haut treffen.
Die Welt um mich bröckelt ab, ich werde mit Schildkrötenschalen überschüttet, braungraue Flecken. Ich decke mir das Gesicht zu, lege mich auf den Bauch und warte, daß sich alles zerstört, daß ich zugeschüttet, erstickt, verbrannt werde. Kleine flimmernde Bluttröpfchen decken die Teppiche und Wände zu (Sand, Wüste, ewige). Dann knallt etwas. Ich spüre einen warmen Atem. Über mir steht eine Frau mit zerrauftem Haar, mit einem Vogelgesicht, von dem ein gekrümmter Schnabel ragt, statt der Hände zieht sie schwere schuppenartige Röcke mit sich.Triumphierend lächelt sie und zeigt mir die Schuppen (Glas, Stahl). »Ich habe dich geboren.« Dann packt sie mich mit dem Schnabel an und trägt mich aus dem Zimmer, ich schlenkere mit Armen und Beinen, doch sie ist stärker als ich, von ihr weht ein Duft nach Lavendel und Pech, sie stößt an Zweige, an irgenwelche schrecklich lange Arme, wir ebnen uns den Weg durch die immer kühlere Luft.
Hier war einst ein Dorf, davon zeugt die Aufschrift mit großen roten Buchtstaben, zerbrochen (Farbe, kein Blut), jetzt gibt es hier nur Trümmer, durch die leeren Fenster stößt der Wind, auf dem Boden liegen Leichen, im Fleisch wimmern Fliegenschwärme, der Regen spült das Blut aus und verwandelt die Landschaft in ein Unterwasserland, wo statt der Fische Leichen schwimmen. Zwischen Algen und umgekehrt stehenden Bäumen ist ein Märchenschloß, mit der Sonne auf dem Dach und mit Himmbeerfenstern, auf den Regalchen blühen Nelken, die Wände sind mit Efeu verwachsen.
Durch die Tür schwärmen Kinder, sie halten sich an den Händen und tanzen, danach besteigen sie Schaukelpferde, blasen in die Windrädchen, erzählen sich Geschichten. Ich nähere mich ihnen: »Wie seid ihr hergekommen?« Als ich das Mädchen mit einer blauen Masche berühre, wird es immer kleiner, bald bleibt mir in den Händen nur ein Seidenband. Die anderen Kinder drücken sich in einen Ring um mich und schauen mich reglos an. Jetzt sehe ich: einige sind ohne Augen, andere ohne Arme, das Mädchen im Kurzen baumwollenen Rock hält sich am riesigen Bauch. Auf den Rücken haben sie kleine Haken, wie jene Spielzeuge, die aufgezogen werden, bis sie sich nicht zu bewegen beginnen. Über uns beginnt es zu donnern. Große Flügel machen Shatten und werfen auf uns Kügelchen in verschiedenen Farben. Die Kinder zeigen auf diese mit de Fingern und tanzen, immer schwungvoller, immer heftiger, dann fallen sie uf den Boden herum und heulen wie aus einem Munde, das Wasser färbt sich rot, rot.
Die Ballone fliegen immer tiefer. Ich habe rote Hände, die Süße gleitet zwischen die Lippen, ich schlucke sie und erbreche mich, den Himmel zerreißt ein Blitz. »Ich dürfte dich noch nicht ausbrüten,« lächelt über mir die Frau mit dem Schnabel und zeigt mir hinauf, in die Höhen, woher ein immer stärkeres Dröhnen kommt.
Es klopfte wieder. »Karlina! Karliiina!« Stärker. Noch einmal. Noch dann, als sich die Tür öffnete und im Zimmer eine vorabendliche Kühle zu wehen begann, rührte ich mich nicht. »Ich möchte gerne schlafen.« C »Karliiina!« Diese Stimme war weich, weiblich, leicht vorwerfend. »Wir waren doch nicht für heute verabredet... Du weißt ja, die Projektion des neuen Filmes. Steh doch auf.« Ich wußte, daß es keine Verabredung gab, doch es zwang mich etwas in ihrer Stimme, daß ich mich in eine Pelerine einhüllte und nach ihr taumelte.
Wir gingen noch nicht fünf Minuten, als mich eine Blondine im weißen Kostüm mit einem glatten (katzenartigen) Gesicht auf einen Stuhl in der letzten Reihe setzte und mir ermunternd zulächelte. Erst jetzt erblickte ich vor mir lange Reihen von Sitzenden und eine weiße Leinwand. Aus den Lautsprechern begannen die Sirenen zu heulen un begleiteten dann die ganze Projektion des Filmes.
Im Vordergrund ein Mann, eine Frau und ein Mädchen im rosa Kleidchen. Im Hintergrund altmodische Möbel, eine Tonwase mit Eibengewächs, ein Fenster, ugehängt mit Spitzenvorhängen, schaut auf die Straße, die sich im fernen Punkt des Himmels verliert (einem glühenden, vorabendlichen).
Ein Kuß. Die Frau rückt ein wenig nach hinten, als ob sie nicht die Berührung mit der Uniform ertragen könnte. Ein Nervenzucken auf seinem Gesicht. Das kleine Mädchen wirft Kußhände zu und ist immerfort zwischen Weinen und Lachen. Vor dem Spiegel rückt sie ihre rosa Masche gerade. Ich werfe mich zur Tür und versuche etwas zu sagen (das Licht des Scheinwerfers ist ungewöhnlich stark). Das Mädchen gibt mir die Hand und bringt das Entlein in Ordnung. »Wo wird es jezt schwimmen?« Das Heulen der Sirenen wird immer stärker.
Die Zuschauer stehen nervös auf. Wir beide laufen ihnen nach. Der gelbe Pfeil schimmert im Dunklen, die Detonationen sind immer stärker, ins Gebäude bricht das Wasser. Ich hebe das Mädchen zu mir, die Menge wimmelt vorbei. »Wir zwei gehen anderswohin, nicht wahr?« Sie stellt mehr fest, als ob sie fragt. »Freilich,« erwidere ich ihr, »dort gibt es keine Pfeile.«
Ein Klopfen auf die Wände. Eine kauzartige Stimme (eulenartig, weiblich) ruft: »Schlag doch, zerschlage!« Ich mache nichts, höre dem Regen zu und ergebe mich. Ich falle in warme, ein wenig stickige Daunendecken der Nacht. Jedoch schon kleine Risse, die Schale halbiert sich. Das Licht ist so stark, daß ich zuerst nichts sehe, vor den Augen schwimmt es mir. Dann die Vogelfrau, die mich zu sich lädt (gebieterisch, herrschsüchtig). »Komm, so viel von allem muß ich dich lehren.« Ich sammle Eierschalen, ich versuche sie zusammenzustellen. »Aber ich möchte gern zurück, verklebe!« Die Frau lacht auf und zeigt auf den Spiegel. Darin ist noch eine andere Frau, eine Verkleinerung der größeren. Mit Flügeln und Klauen statt der Finger.
Ich schließe die Augen und schwinge mit den Flügeln, langsam und ungelenk erhebe ich mich. Über mir eine breite aufgeschlitzte Blache, durch welche man den Himmel sieht. Ich bin schon ganz nahe, ich rücke die Fetzen auseinander, die von der Decke schlottern, das Sonnenlicht nimmt mir den Atem. »Karliiina! Die Sonne wird dich verbrennen, laß dich herunter,« mahnt mich ein fremder, immer kleinerer Vogel weit unter mir.
Wärme überströmt mich, die Flügel bewegen sich mit immer größerer Leichtigkeit. Luft, Luft!