Der Vogel, sagte sie, sei vor der Windschutzscheibe umhergeflattert und sie habe sich erschrocken, als sie ihn plötzlich auf ihrem Rückspiegel niedergelassen fand. Wie er das geschafft hatte, habe sie sich kaum erklären können, denn sie fuhr doch fast 80 Stundenkilometer, und beinahe wäre sie in den Graben geschlittert, so sehr habe sie das Tier abgelenkt. Zwischen Kleinwaldlicht und Großmoordorf. Und dort saß es dann, das Tier, bis es an der Ortstafel von dem Auto abließ und wegflog, im Wagen wieder Ruhe eintrat und ihr Herzschlag sich verlangsamte und das unregelmäßige Schnabelklopfen am seitlichen Fenster auch in ihren Gedanken verklungen war. So hielt sie an, fast 30 Meter von ihrem Haus entfernt, an der Kapelle, sich umsehend, den Heiligen, dessen Bild dort aufgemalt war und dessen Namen sie vergessen hatte, anseufzend, sich sagend: es ist doch nichts passiert, dann lenkte sie, noch langsamer, beinahe im Schritttempo das Auto nach Hause und gab die Geschichte weiter. Ein wenig ehrfürchtig, denn: so eine Handlungsweise sei nur einem Teufelsvieh zuzurechnen, das sie vielleicht töten wolle. Ihr Gatte aber meinte, es sei nur ein Zufall, müsse nur Zufall gewesen sein. Um ihr zu beweisen, dass ihr das Vieh nicht nach dem Leben getrachtet hatte, wollte er, Michl, selbst dorthin fahren. »Eva, steig ein,« wies er mit mahnendem Ton auf das Auto. Doch sie weigerte sich und er meinte, wegen dieses blöden Tieres solle sie sich nicht so anstellen, und sie setzte dagegen, wegen dieses blöden Tieres müsse er ja nicht extra ausfahren. So fuhr er, leicht grollend, allein.
An der Kapelle vorbei, die Ortstafel von Großmoordorf bald hinter sich lassend, langsamer fahrend als zuvor seine Frau, und gespannt auf Geflatter und Geklopfe wartend, aber als 500 Meter nach dem Dorfende immer noch nichts geschehen war, drehte er auf einem kleinen Waldweg um, murmelte: »Zufall« und machte sich so auf den Rückweg. Doch kaum fuhr er an einer kleinen Baumgruppe vorbei nahm er aus den Augenwinkeln etwas Braunes auf dem Hintergrund des blauen Himmels hinter den Feldern wahr, vernahm rechts von ihm ein Klopfen, wandte den Kopf, doch da kam das Klopfen von Links und da saß er, ein Sperling, winzig und laut. Michl verlangsamte das Gefährt, rollte fast in das Dorf, und wieder schien die Ortstafel dem Tier Signal zu sein, sich zu verabschieden.
Obgleich weniger aufgeregt als zuvor Eva und obgleich im Ortsgebiet, trat er bei der Kapelle ergiebig aufs Gas und quietschte mit dem Wagen in die Einfahrt, freudig, ja begeistert, den anderen Familienmitgliedern von dem Erlebnis zu berichten: ein kleiner Spatz, offenbar von Neugier getrieben, und bemerkenswert, wie er sich selbst im Rückspiegel betrachtet hätte. Welch außergewöhnliche Erscheinung. So packte Michl seine Mutter am Arm und sagte: »Jetzt fahrst mit.« Eva saß währenddessen am Küchentisch und versuchte mit Schnaps zur Ruhe zu kommen.
Diesmal wusste Michl schon, was auf ihn zu kam; vor Kleinwaldlicht drehte er um und lachte bereits voller Vorfreude, die Mutter beim Anblick zu Vogels zu sehen. Als dann der Spatz am Rückspiegel der Beifahrerseite saß, presste sie ihre Wange an das Fensterglas um ihn besser beobachten zu können, ihre Brille klapperte aufgrund der Holprigkeit der Straße gegen die Scheibe, und sie betrachtete ihn ganz genau, wie er mit dem Kopf zuckte, hin und herblickte, manchmal, wenn das Auto von Schlaglöchern erschüttert wurde, von der Spiegelfassung hochhopste und sich doch immer wieder niederließ, einmal in den Spiegel sah – ob sich selbst erkennend oder nicht – und dann wieder auf ihre Brille, dem Geklacker der Brille ein Geklopfe des Schnabels entgegensetzend.
»Entzückend« war der Ausdruck, den sie gebrauchte, ein entzückendes Wesen, wohl recht jung, mit weichen Bauch- und glänzenden Schwanzfedern. Und noch einmal wurde an diesem Abend ausgefahren, der Vater, die Mutter, der Sohn und seine Frau, die, die Schnapsflasche noch in Händen, das Auto bestieg, weniger um daraus zu trinken, als vielmehr, um sich an diesem Gegenstand festhalten zu können. Konnte sie sich das teuflische Geflatter doch kaum als entzückend vorstellen, und auch die Aussagen der anderen konnten sie nicht recht überzeugen.
Das konnte nur der Vogel selbst, mit keckem Blick, und es war Eva als wäre er einen Moment traurig und den anderen wieder komisch, wie er dreinblickte, wie ein kleiner braun getunkter Clown, der seine Grimassen schnitt, und sie stellte sich vor, wie er den Schnabel zu Zirkusmusik hob und senkte. Aus dem Teufelsgeflatter wurde für sie eine Tanzeinlage und aus dem unruhigen Geklopfe ein Trommelspiel. Das Auto ein Resonanzkörper. Noch in dieser Nacht schlug sie in einem Buch – »Die Vögel Mitteleuropas« – den Spatz nach, konnte auf derlei Verhalten aber keinen Hinweis finden, trennte jedoch das Bild des Sperlings sorgfältig aus dem Buch und hängte es über dem ehelichen Bett, neben dem hochzeitlichen Foto, auf. »Der kleine Clown gehört jetzt zu uns,« sagte sie zufrieden, als sie die braunen Haare vor dem Spiegel auf die Schultern herabließ und bei sich dachte, dass sie und das Vögelchen auch Gemeinsamkeiten hätten, und sie klopfte mit ihrer Haarnadel ans Spiegelglas, über sich selbst und ihre anfängliche Furcht lächelnd. »Wir könnten ihn Severin nennen,« meinte sie, denn Severin höre sich nach einem Clown an.
Am nächsten Morgen, nachdem sie mit der Mutter die Hühner gefüttert hatte – und dabei war ihr aufgefallen, dass sie die Hühner an diesem Tag anders betrachtete als sonst, vielleicht etwas wohlwollender, nicht als Eierproduzenten, sondern wie Teilnehmer einer Parade mit roten Krönchen und braunen Umhängen geschmückt – standen die beiden Frauen, die alte Bäuerin und ihre Schwiegertochter (das Leben auf dem Hof hatte sie vor drei Jahren mitgeheiratet) neben dem Zaun und erzählten der Nachbarin: »Wir haben einen Vogel.« Und sie führten detailliert die Geschehnisse des vergangen Abends aus. Ob sie so etwas schon einmal erlebt hätte, wie Severin?, fragten sie. Hätte sie nicht, musste die Nachbarin zugeben und fragte, ob auch sie diesen Severin begutachten könne.
Natürlich wolle man ihn ihr gern zeigen, doch seien die beiden Männer ausgefahren, um nach dem Holz im Wald zu sehen und kämen nicht so bald wieder, wer wisse schon, ob der Vogel sich auch bei einem anderen Auto so verhalte, aber man könne mit dem Traktor fahren, der habe ja schließlich auch Rückspiegel, größere sogar, doch sei nicht zu viel zu hoffen, schließlich kenne Severin das Gefährt nicht. So machten sich die drei Frauen auf den Weg, Eva fuhr und die Mutter und die Nachbarin waren seitlich und umständlich, ihre Kleider und Schürzen mit der einen Hand festhaltend über die Räder auf den Traktor geklettert. Severin war gleich, welches Fahrzeug vorfuhr, auf diesem ließ er sich ebenso nieder wie am Vortag und Eva klatschte begeistert in die Hände, und wäre abermals beinahe im Graben gelandet. Die Mutter blickte zufrieden und die Nachbarin verbarg ihr Erstaunen nicht. Am nächsten Tag hatte bereits ganz Großmoordorf Bekanntschaft mit Severin dem Spatz gemacht.
Auch der Bürgermeister hatte die Strecke abgefahren und kurz vor der Stelle, an der Severin aufhüpfte, wurde alsbald eine kleine Holzbude errichtet, aus der im Winter üblicherweise am Eisschützenplatz Glühwein ausgeschenkt wurde, und eine Straßenschranke wurde eben dort montiert, damit jeder, der Severin sah, auch brav dafür bezahlte. Flugzettel wurden innerhalb einer Woche entworfen und gedruckt; auf ihnen befand sich das Bild des Spatzen aus »Die Vögel Mitteleuropas« und darunter stand geschrieben: »Wer unseren Severin kennen lernen möchte: die Straße wird von 8:30-19:30 täglich geöffnet sein. An einen Haushalt.«
Große Plakate zierten die Ortseinfahrten Großmoordorfs: »Heimat von Severin dem Spatz«, und als die ersten Verkaufstände mit Zuckerwatte und kleinen Plüschspatzen, die man auch beim Spatzenziehen (braun bemalte Plastikentchen mussten aus dem Wasser gezogen werden, und den Gewinn bestimmte eine Nummer) erstehen konnte, aufgemacht wurden und der Bürgermeister mit hochrotem, rundem Gesicht eine Rede auf Severin und den Severintourismus in Großmoordorf (selbst wenn die Kleinwaldlichter neidisch seien) hielt, in der er anpries, was mit den Einnahmen alles für die Gemeinde getan würde, Straßen ausgebessert und Gräben gesäubert, war Eva von Stolz erfüllt. Sie weinte fast, denn es war ihr kleiner Severin, gleich was die anderen dachten, ihre Entdeckung, ihr braunes Spätzchen, ihr Schnabelmusikant, ihr Herzensclownchen, nein, ihr Kind, das so sehr gelobt und geliebt wurde; sollten sich die Kleinwaldlichter doch zum Teufel scheren.
So sollte es immer sein: Severin sprang auf jedes an der kleinen Hütte vorbeigelassene Auto, klopfte und musizierte, schaute sich im Spiegel an und amüsierte damit die Fahrzeuginsassen. Eva aber war jeden Tag die erste, die den Kleinen mitnahm, die erste jeden Tag, die vier Euro bezahlte um in ihren eigenen Heimatort zu fahren, nur um ihren Severin zu begrüßen.
Städter kamen, um ihren Kleinen anzuschauen, und die Kleinwaldlichter gingen gerichtlich gegen die Straßensperre vor. Stoffvögelchen, Strohvögelchen, Zuckerwatte, Krapfen und Langos wurden verkauft und ein Autodrom wurde aufgestellt, bei dem sich nun allabendlich die Dorfjugend versammelte, auf dessen kleinen Autos große Vogelaufkleber – leider von Adlern und nicht von Spatzen, doch andere hatte man nicht bekommen – angebracht waren.
Doch noch bevor das Geld für die Flugblätter wieder hereingebracht wurde, noch bevor es die große Gewinne, von denen der Bürgermeister gesprochen hatte, regnete, verschwand Severin, und obwohl die Dorfbewohner den gesamten Wald neben der Straße absuchten und nach Severin oder wenigstens seinem winzigen Leichnam Ausschau hielten, um ihn der Öffentlichkeit präsentieren zu können, und obwohl der Bürgermeister weitere Flugblätter drucken ließ, auf denen diesmal um Hilfe bei der Wiederfindung Severins gebeten wurde – mit 5 Euro Eintritt sei man dabei, dürfe mit in den Wald und 500 Euro Gewinn lockten den Finder – war es nicht möglich den Spatz ausfindig zu machen. Die Straßensperre musste dennoch per Gerichtsbeschluss aufgelöst werden, so lange hielt der Gemeinderat daran fest, dass Severin vielleicht noch selbst auftauchen würde, und die Kleinwaldlichter feierten schließlich ihren Triumph über die Großmoordorfer. Dazu gab es ein Fest mit Freibier, das weit mehr Kosten verursachte, als der Teil des Bußgeldes, das die Großmoordorfer zu entrichten hatten und das in die Kleinwaldlichter Gemeindekasse fließen sollte.
Nur Eva fuhr noch täglich die Strecke ab, an der sie stets Spuren Severins zu finden glaubte, Federn oder Körner. »Wo bist du mein Vögelchen?«, rief sie. Manchmal fuhr sie auch mitten in der Nacht, sich am Schnaps festhaltend, nach Kleinwaldlicht und bewarf das Haus des Bürgermeisters mit Eiern – ihre Hühner erschienen ihr wieder wie alles Geflügel zuvor – und sie schrie, dass ganz Kleinwaldlicht es hören konnte: »Du hast meinen Severin umgebracht, du hast meinen Severin umgebracht.« Bis Michl mit dem Traktor kam und die schreiende und weinende Frau nach Hause brachte.
Der Vogel, sagte sie, sei vor der Windschutzscheibe umhergeflattert und sie habe sich erschrocken, als sie ihn plötzlich auf ihrem Rückspiegel niedergelassen fand. Wie er das geschafft hatte, habe sie sich kaum erklären können, denn sie fuhr doch fast 80 Stundenkilometer, und beinahe wäre sie in den Graben geschlittert, so sehr habe sie das Tier abgelenkt. Zwischen Kleinwaldlicht und Großmoordorf. Und dort saß es dann, das Tier, bis es an der Ortstafel von dem Auto abließ und wegflog, im Wagen wieder Ruhe eintrat und ihr Herzschlag sich verlangsamte und das unregelmäßige Schnabelklopfen am seitlichen Fenster auch in ihren Gedanken verklungen war. So hielt sie an, fast 30 Meter von ihrem Haus entfernt, an der Kapelle, sich umsehend, den Heiligen, dessen Bild dort aufgemalt war und dessen Namen sie vergessen hatte, anseufzend, sich sagend: es ist doch nichts passiert, dann lenkte sie, noch langsamer, beinahe im Schritttempo das Auto nach Hause und gab die Geschichte weiter. Ein wenig ehrfürchtig, denn: so eine Handlungsweise sei nur einem Teufelsvieh zuzurechnen, das sie vielleicht töten wolle. Ihr Gatte aber meinte, es sei nur ein Zufall, müsse nur Zufall gewesen sein. Um ihr zu beweisen, dass ihr das Vieh nicht nach dem Leben getrachtet hatte, wollte er, Michl, selbst dorthin fahren. »Eva, steig ein,« wies er mit mahnendem Ton auf das Auto. Doch sie weigerte sich und er meinte, wegen dieses blöden Tieres solle sie sich nicht so anstellen, und sie setzte dagegen, wegen dieses blöden Tieres müsse er ja nicht extra ausfahren. So fuhr er, leicht grollend, allein.
An der Kapelle vorbei, die Ortstafel von Großmoordorf bald hinter sich lassend, langsamer fahrend als zuvor seine Frau, und gespannt auf Geflatter und Geklopfe wartend, aber als 500 Meter nach dem Dorfende immer noch nichts geschehen war, drehte er auf einem kleinen Waldweg um, murmelte: »Zufall« und machte sich so auf den Rückweg. Doch kaum fuhr er an einer kleinen Baumgruppe vorbei nahm er aus den Augenwinkeln etwas Braunes auf dem Hintergrund des blauen Himmels hinter den Feldern wahr, vernahm rechts von ihm ein Klopfen, wandte den Kopf, doch da kam das Klopfen von Links und da saß er, ein Sperling, winzig und laut. Michl verlangsamte das Gefährt, rollte fast in das Dorf, und wieder schien die Ortstafel dem Tier Signal zu sein, sich zu verabschieden.
Obgleich weniger aufgeregt als zuvor Eva und obgleich im Ortsgebiet, trat er bei der Kapelle ergiebig aufs Gas und quietschte mit dem Wagen in die Einfahrt, freudig, ja begeistert, den anderen Familienmitgliedern von dem Erlebnis zu berichten: ein kleiner Spatz, offenbar von Neugier getrieben, und bemerkenswert, wie er sich selbst im Rückspiegel betrachtet hätte. Welch außergewöhnliche Erscheinung. So packte Michl seine Mutter am Arm und sagte: »Jetzt fahrst mit.« Eva saß währenddessen am Küchentisch und versuchte mit Schnaps zur Ruhe zu kommen.
Diesmal wusste Michl schon, was auf ihn zu kam; vor Kleinwaldlicht drehte er um und lachte bereits voller Vorfreude, die Mutter beim Anblick zu Vogels zu sehen. Als dann der Spatz am Rückspiegel der Beifahrerseite saß, presste sie ihre Wange an das Fensterglas um ihn besser beobachten zu können, ihre Brille klapperte aufgrund der Holprigkeit der Straße gegen die Scheibe, und sie betrachtete ihn ganz genau, wie er mit dem Kopf zuckte, hin und herblickte, manchmal, wenn das Auto von Schlaglöchern erschüttert wurde, von der Spiegelfassung hochhopste und sich doch immer wieder niederließ, einmal in den Spiegel sah – ob sich selbst erkennend oder nicht – und dann wieder auf ihre Brille, dem Geklacker der Brille ein Geklopfe des Schnabels entgegensetzend.
»Entzückend« war der Ausdruck, den sie gebrauchte, ein entzückendes Wesen, wohl recht jung, mit weichen Bauch- und glänzenden Schwanzfedern. Und noch einmal wurde an diesem Abend ausgefahren, der Vater, die Mutter, der Sohn und seine Frau, die, die Schnapsflasche noch in Händen, das Auto bestieg, weniger um daraus zu trinken, als vielmehr, um sich an diesem Gegenstand festhalten zu können. Konnte sie sich das teuflische Geflatter doch kaum als entzückend vorstellen, und auch die Aussagen der anderen konnten sie nicht recht überzeugen.
Das konnte nur der Vogel selbst, mit keckem Blick, und es war Eva als wäre er einen Moment traurig und den anderen wieder komisch, wie er dreinblickte, wie ein kleiner braun getunkter Clown, der seine Grimassen schnitt, und sie stellte sich vor, wie er den Schnabel zu Zirkusmusik hob und senkte. Aus dem Teufelsgeflatter wurde für sie eine Tanzeinlage und aus dem unruhigen Geklopfe ein Trommelspiel. Das Auto ein Resonanzkörper. Noch in dieser Nacht schlug sie in einem Buch – »Die Vögel Mitteleuropas« – den Spatz nach, konnte auf derlei Verhalten aber keinen Hinweis finden, trennte jedoch das Bild des Sperlings sorgfältig aus dem Buch und hängte es über dem ehelichen Bett, neben dem hochzeitlichen Foto, auf. »Der kleine Clown gehört jetzt zu uns,« sagte sie zufrieden, als sie die braunen Haare vor dem Spiegel auf die Schultern herabließ und bei sich dachte, dass sie und das Vögelchen auch Gemeinsamkeiten hätten, und sie klopfte mit ihrer Haarnadel ans Spiegelglas, über sich selbst und ihre anfängliche Furcht lächelnd. »Wir könnten ihn Severin nennen,« meinte sie, denn Severin höre sich nach einem Clown an.
Am nächsten Morgen, nachdem sie mit der Mutter die Hühner gefüttert hatte – und dabei war ihr aufgefallen, dass sie die Hühner an diesem Tag anders betrachtete als sonst, vielleicht etwas wohlwollender, nicht als Eierproduzenten, sondern wie Teilnehmer einer Parade mit roten Krönchen und braunen Umhängen geschmückt – standen die beiden Frauen, die alte Bäuerin und ihre Schwiegertochter (das Leben auf dem Hof hatte sie vor drei Jahren mitgeheiratet) neben dem Zaun und erzählten der Nachbarin: »Wir haben einen Vogel.« Und sie führten detailliert die Geschehnisse des vergangen Abends aus. Ob sie so etwas schon einmal erlebt hätte, wie Severin?, fragten sie. Hätte sie nicht, musste die Nachbarin zugeben und fragte, ob auch sie diesen Severin begutachten könne.
Natürlich wolle man ihn ihr gern zeigen, doch seien die beiden Männer ausgefahren, um nach dem Holz im Wald zu sehen und kämen nicht so bald wieder, wer wisse schon, ob der Vogel sich auch bei einem anderen Auto so verhalte, aber man könne mit dem Traktor fahren, der habe ja schließlich auch Rückspiegel, größere sogar, doch sei nicht zu viel zu hoffen, schließlich kenne Severin das Gefährt nicht. So machten sich die drei Frauen auf den Weg, Eva fuhr und die Mutter und die Nachbarin waren seitlich und umständlich, ihre Kleider und Schürzen mit der einen Hand festhaltend über die Räder auf den Traktor geklettert. Severin war gleich, welches Fahrzeug vorfuhr, auf diesem ließ er sich ebenso nieder wie am Vortag und Eva klatschte begeistert in die Hände, und wäre abermals beinahe im Graben gelandet. Die Mutter blickte zufrieden und die Nachbarin verbarg ihr Erstaunen nicht. Am nächsten Tag hatte bereits ganz Großmoordorf Bekanntschaft mit Severin dem Spatz gemacht.
Auch der Bürgermeister hatte die Strecke abgefahren und kurz vor der Stelle, an der Severin aufhüpfte, wurde alsbald eine kleine Holzbude errichtet, aus der im Winter üblicherweise am Eisschützenplatz Glühwein ausgeschenkt wurde, und eine Straßenschranke wurde eben dort montiert, damit jeder, der Severin sah, auch brav dafür bezahlte. Flugzettel wurden innerhalb einer Woche entworfen und gedruckt; auf ihnen befand sich das Bild des Spatzen aus »Die Vögel Mitteleuropas« und darunter stand geschrieben: »Wer unseren Severin kennen lernen möchte: die Straße wird von 8:30-19:30 täglich geöffnet sein. An einen Haushalt.«
Große Plakate zierten die Ortseinfahrten Großmoordorfs: »Heimat von Severin dem Spatz«, und als die ersten Verkaufstände mit Zuckerwatte und kleinen Plüschspatzen, die man auch beim Spatzenziehen (braun bemalte Plastikentchen mussten aus dem Wasser gezogen werden, und den Gewinn bestimmte eine Nummer) erstehen konnte, aufgemacht wurden und der Bürgermeister mit hochrotem, rundem Gesicht eine Rede auf Severin und den Severintourismus in Großmoordorf (selbst wenn die Kleinwaldlichter neidisch seien) hielt, in der er anpries, was mit den Einnahmen alles für die Gemeinde getan würde, Straßen ausgebessert und Gräben gesäubert, war Eva von Stolz erfüllt. Sie weinte fast, denn es war ihr kleiner Severin, gleich was die anderen dachten, ihre Entdeckung, ihr braunes Spätzchen, ihr Schnabelmusikant, ihr Herzensclownchen, nein, ihr Kind, das so sehr gelobt und geliebt wurde; sollten sich die Kleinwaldlichter doch zum Teufel scheren.
So sollte es immer sein: Severin sprang auf jedes an der kleinen Hütte vorbeigelassene Auto, klopfte und musizierte, schaute sich im Spiegel an und amüsierte damit die Fahrzeuginsassen. Eva aber war jeden Tag die erste, die den Kleinen mitnahm, die erste jeden Tag, die vier Euro bezahlte um in ihren eigenen Heimatort zu fahren, nur um ihren Severin zu begrüßen.
Städter kamen, um ihren Kleinen anzuschauen, und die Kleinwaldlichter gingen gerichtlich gegen die Straßensperre vor. Stoffvögelchen, Strohvögelchen, Zuckerwatte, Krapfen und Langos wurden verkauft und ein Autodrom wurde aufgestellt, bei dem sich nun allabendlich die Dorfjugend versammelte, auf dessen kleinen Autos große Vogelaufkleber – leider von Adlern und nicht von Spatzen, doch andere hatte man nicht bekommen – angebracht waren.
Doch noch bevor das Geld für die Flugblätter wieder hereingebracht wurde, noch bevor es die große Gewinne, von denen der Bürgermeister gesprochen hatte, regnete, verschwand Severin, und obwohl die Dorfbewohner den gesamten Wald neben der Straße absuchten und nach Severin oder wenigstens seinem winzigen Leichnam Ausschau hielten, um ihn der Öffentlichkeit präsentieren zu können, und obwohl der Bürgermeister weitere Flugblätter drucken ließ, auf denen diesmal um Hilfe bei der Wiederfindung Severins gebeten wurde – mit 5 Euro Eintritt sei man dabei, dürfe mit in den Wald und 500 Euro Gewinn lockten den Finder – war es nicht möglich den Spatz ausfindig zu machen. Die Straßensperre musste dennoch per Gerichtsbeschluss aufgelöst werden, so lange hielt der Gemeinderat daran fest, dass Severin vielleicht noch selbst auftauchen würde, und die Kleinwaldlichter feierten schließlich ihren Triumph über die Großmoordorfer. Dazu gab es ein Fest mit Freibier, das weit mehr Kosten verursachte, als der Teil des Bußgeldes, das die Großmoordorfer zu entrichten hatten und das in die Kleinwaldlichter Gemeindekasse fließen sollte.
Nur Eva fuhr noch täglich die Strecke ab, an der sie stets Spuren Severins zu finden glaubte, Federn oder Körner. »Wo bist du mein Vögelchen?«, rief sie. Manchmal fuhr sie auch mitten in der Nacht, sich am Schnaps festhaltend, nach Kleinwaldlicht und bewarf das Haus des Bürgermeisters mit Eiern – ihre Hühner erschienen ihr wieder wie alles Geflügel zuvor – und sie schrie, dass ganz Kleinwaldlicht es hören konnte: »Du hast meinen Severin umgebracht, du hast meinen Severin umgebracht.« Bis Michl mit dem Traktor kam und die schreiende und weinende Frau nach Hause brachte.